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Weil Fakten allein nicht genug sind

MESH-Forschungszentrum: Warum wir das Ökosystem zerstören - aus geisteswissenschaftlicher Sicht

Unsere Gesellschaft bringt das Ökosystem Erde in Gefahr. Doch wir scheinen uns schwer zu tun, unser umweltschädliches Verhalten abzulegen. Das Forschungszentrum MESH untersucht aus geisteswissenschaftlicher Perspektive, warum wir sehenden Auges unsere eigene Lebensgrundlage zerstören.

Robert Hahn

Der Crawford Lake ist ein beschaulicher See in der kanadischen Provinz Ontario. Er ist beliebt bei Anglern und Wanderern. Niemand hätte je gedacht, dass der kleine See einmal Schlagzeilen machen würde. Seit Juli 2023 ist das anders: Glaubt man den Forschenden der Anthropocene Working Group, einer Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie, dann sind die Sedimente auf dem Grund des Gewässers der Referenzpunkt für das Anthropozän – das Weltzeitalter des Menschen. Dort fanden sich radioaktive Spuren von Atombombeneinsätzen – nur eines der Beispiele, wie sich der Mensch in die geologischen Schichten eingebrannt hat. 1950 soll dieses Zeitalter begonnen haben, heute sind die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur nicht mehr zu übersehen: Der Mensch ist zu einer Macht geworden, die wie eine geologische Kraft tiefgreifende Veränderungen in seiner Umwelt hervorruft.

Seit die Menschheit sich über die Kontinente der Erde ausgebreitet hat, ist sie in eine intensive wechselseitige Beziehung zu den existierenden Ökosystemen getreten – nicht immer zum Wohl der lokalen Tier- und Pflanzenarten. Umweltvergiftung und durch den Menschen verursachte Landerosion sind nicht erst seit der Industrialisierung ein Problem. Viele Spezies starben daraufhin aus oder wurden verdrängt.

Nun wird unser Planet wärmer. Dies ist ein Fakt. Der Klimawandel, der sich auch bei uns mit milden Wintern und heißen Sommern zeigt, hat Folgen nicht alleine für Menschen, sondern auch für viele Tiere und Pflanzen: Immer mehr Arten, die bereits wegen anderer menschlicher Aktivitäten bedroht sind, leiden jetzt zusätzlich. Auch das ist ein Fakt. Die Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature) verzeichnet mehr als 44.000 Arten auf ihrer Roten Liste der vom Aussterben gefährdeten Arten.

Doch selbst im umweltbewussten Deutschland verfehlt die Politik ihre selbst gesetzten Ziele zum Ausstoß von Treibhausgasen und damit das 2-Grad-Ziel, selbst hier sterben weiterhin Tierarten wie Wildbienen aus. Warum sind die modernen Gesellschaften nicht in der Lage, ihre Emissionen zu verringern? Überzeugen die Fakten nicht mehr?


Den größeren Kontext in den Blick nehmen

Die modernen Naturwissenschaften haben die Fakten des Klimawandels und des Artensterbens schon vor Jahrzehnten festgestellt. Sie haben sie der Weltöffentlichkeit präsentiert, erklärt und wieder erklärt. Doch die Reduktion schädlicher Treibhausgase und der Artenschutz scheinen zu stocken. Woran liegt das? »Fakten allein sind nicht genug«, sagt Kate Rigby, Humboldt-Professorin und Leiterin von MESH, den Multidisciplinary Environmental Studies in the Humanities. Das geisteswissenschaftliche Forschungszentrum befasst sich mit den sozialen, kulturellen und ethischen Dimensionen des globalen Umweltwandels und den damit verbundenen ökologischen, klimatischen und gesundheitlichen Krisen. »Die Art und Weise, wie die Menschen mit der nicht-menschlichen Welt umgehen, wird durch ihre Wissenssysteme, ihre Technologien, ihre wirtschaftlichen Strukturen, ihre politischen Prozesse, aber auch durch die Kultur geprägt«, sagt die australische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin. »Damit meine ich sehr grundlegende Annahmen über die Natur der Realität.«

Kate Rigby und Roman Bartosch erforschen, wie wir uns den Planeten mit anderen Lebewesen teilen können - und warum der Mensch beim Klimaschutz die einzige Hoffnung und das größte Hindernis ist.

MESH will verstehen, wie diese Annahmen unseren Umgang mit den Krisen des Klimawandels und des Artensterbens prägen – und wie sie effektives Handeln, um die Folgen dieser Krisen zumindest abzumildern, beeinflussen können. Unter dem Dach von MESH versammeln sich verschiedene Projekte, die die Fragestellungen und Methoden von Einzeldisziplinen in einen größeren Kontext führen: geographisch, historisch, archäologisch oder ethnologisch. Kate Rigby gehört zu den Pionier*innen des noch relativ jungen Gebietes der Environmental Humanities – der umweltbezogenen Geisteswissenschaften. »Die Geisteswissenschaften sind die ideale Disziplin, um einige der Probleme anzugehen, die die Naturwissenschaften bisher nicht angegangen sind.« Zusammen mit dem Anglisten Professor Dr. Roman Bartosch und dem Ethnologen Professor Dr. Franz Krause leitet sie das Forschungszentrum.


Kulturelle und ökologische Evolution zusammendenken

Die Environmental Humanities gehen davon aus, dass das Verhalten menschlicher Gesellschaften nicht immer einem logisch-rationalen Kalkül folgt. Vielmehr ist kollektives Denken und Handeln in Strukturen eingebettet: historische Bedingungen, Traditionen und singuläre Verhaltensweisen. Diese Aspekte sind aber kein Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften. Für sie ist der Mensch eine »Black Box«; sein Verhalten ist nicht voraussagbar. Doch Menschen sind Rigby zufolge der entscheidende Faktor, warum die modernen, hoch-technisierten kapitalistischen Gesellschaften nicht von ihrem umweltgefährdenden Handeln ablassen können.

Die Forschenden von MESH sehen sich jedoch nicht in Konkurrenz oder gar Opposition zu den Naturwissenschaften. Vielmehr kooperieren sie in Köln, zum Beispiel im Projekt HESCOR (Human and Earth System Coupled Research) bei der Erforschung des komplexen Zusammenspiels zwischen der kulturellen Evolution des Menschen und den vielfältigen Ökosystemen der Erde. Das interdisziplinäre Team aus Expert*innen der Archäologie, Geophysik, Mathematik, Geographie, Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft untersucht die Wechselwirkung zwischen klimatischen und menschlichen Systemen und geht der Frage nach, wie das Klima die menschliche Evolution beeinflusst hat. Die Klimaereignisse während der »Out of Africa«-Migration des Homo sapiens vor ungefähr 300.000 Jahren werden dabei in Interaktion mit der Evolution menschlicher Kulturen betrachtet. Daran schließt sich zum Beispiel die Frage an, welche Klimabedingungen heute Migration antreiben.

Weitere Fragen sind, wie die Zukunft und das menschliche Überleben in Literatur und Kunst beschrieben werden – an unterschiedlichen Orten auf der Welt. Wie reagieren heutige lokale Gesellschaften auf Krisen? Und wie definieren unterschiedliche Gesellschaften »Umwelt« überhaupt? Die Vielfalt methodischer Ansätze der Geistes- und Kulturwissenschaften fördert dabei die Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften, ist sich Rigby sicher.


Ethischer Umgang nicht nur mit Menschen

»Wir kommen nicht umhin, uns auch mit historischen Machtfragen zu befassen, die in Umweltdiskussionen eine Rolle spielen«, sagt Roman Bartosch. Heutige Krisen seien das Erbe einer Reihe von Entwicklungen, die in Europa mit der Ausbreitung des europäischen Imperialismus und des Handelskapitalismus im 16. Jahrhundert, und anschließend mit der Entwicklung der durch fossile Brennstoffe angetriebenen Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert begannen. »Gerade diese Zeitspanne hat zur Entstehung einer Gesellschaft geführt, die die Systeme der Erde so tiefgreifend verändert hat, dass dies in den geologischen Aufzeichnungen noch Jahrtausende in der Zukunft sichtbar sein wird«, sagt Rigby.

 

Überbleibsel vom Hochwasser am Rhein, im Hintergrund die Mülheimer Brücke. Fluktuierende Flusspegel gab es schon immer, doch in Zukunft werden die Wetterextreme zunehmen. Brauchen wir eine Katastrophenhilfe, die auch den Schutz von Tieren und ganzen Ökosystemen mitdenkt?

Doch nicht überall auf diesem Planeten haben sich die menschlichen Gesellschaften entlang der kapitalistischen Logik entwickelt. Lokale Kulturen geben unterschiedliche Antworten auf die Frage nach Sinn und Zweck des Lebens. Rigby: »Diese kulturellen Dimensionen müssen auch berücksichtigt werden, wenn wir die Triebkräfte der zerstörerischen Systeme und ihre historischen Ursprünge betrachten und die gegenwärtigen globalen Umweltveränderungen wirklich verstehen wollen.«

Auch die Frage, wie Menschen und nicht-menschliche Lebewesen zusammenleben, sei relevant. »Dazu gehören zum Beispiel Ideen des ethischen Umgangs mit anderen Lebewesen«, sagt Roman Bartosch. In diesem Zusammenhang müsse etwa die Katastrophenvorsorge, die üblicherweise eher als eine Art wissenschaftlicher, technologischer Vorgang zur Vorbereitung einer Infrastruktur oder Gesellschaft verstanden wird, überdacht werden. Denn auch das Überleben von Tieren und ganzer Ökosysteme steht bei Katastrophen auf dem Spiel.

Ein weiterer Pfeiler von MESH sind daher ethnologisch getriebene Projekte, wie zum Beispiel das von Professor Dr. Michael Bollig geleitete »Rewilding the Anthropocene«, das den Wandel menschlicher Lebensgrundlagen, Institutionen, sozialer Vorstellungen und Einstellungen unter verschiedenen sozio-ökologischen Bedingungen untersucht. Ein Teilprojekt befasst sich mit den Auswirkungen der jüngsten Populationsrückgänge bei sogenannten Megaherbivoren, also großen pflanzenfressenden Tieren wie Elefanten. Ein weiteres erforscht Überträger epidemischer Krankheiten im Zusammenhang mit der Wiederbewaldung, und ein drittes die sozioökonomischen Auswirkungen der raschen Kommerzialisierung verschiedener Flora und Fauna. Zusammen sollen die Ergebnisse zu einem besseren Verständnis der Komplexität groß angelegter Renaturierungsbemühungen beitragen.


Ein internationaler Wissenschafts-Hub

Für diese Art von Forschung legt MESH die Grundlagen: zum einen mit dem Ausbau der internationalen Forschungsbeziehungen unter anderem mit einem Gastwissenschaftlerprogramm, zum anderen durch die Förderung der nächsten Generation von Wissenschaftler*innen: Ein Promotionsprogramm in Environmental Humanities (Umweltwissenschaften) wird gerade entwickelt, ein Masterprogramm sowie Beiträge zum Studium Generale sind in Planung.

 

Wo der Mensch die Natur zu sich einlädt: die Flora.

Nicht zuletzt bildet MESH aber auch das Netz, das sich über viele Projekte und Initiativen spannt, die an der Universität zu Köln und international gerade entstehen. Eine neue Initiative ist zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Global South Studies Center (GSSC) unter dem Titel »Sharing a Planet in Peril«. Das Projekt soll untersuchen, wie die ungerechten Auswirkungen der globalen Umweltverschmutzung an verschiedenen Orten, in verschiedenen Diskursen und Medien auf der ganzen Welt erfahren werden, mit besonderem Schwerpunkt auf den Teilen des Globalen Südens, in denen das GSSC bereits starke Partnerschaften aufgebaut hat: im südlichen und östlichen Afrika, Süd- und Südostasien und Lateinamerika. Die Initiative wurde Anfang 2024 im Rahmen der Exzellenzinitiative aufgefordert, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Vollantrag für ein Exzellenzcluster einzureichen.

Unter der gemeinsamen Leitung von MESH und dem GSSC, und mit Unterstützung der European University for Wellbeing (EUniWell) und des International Office, ist die Uni Köln zudem ein thematisches Zentrum von BRIDGES geworden, einer internationalen Koalition für Nachhaltigkeitswissenschaften, die dem UNESCO-Programm »Management of Societal Transformations« angegliedert ist. Thematischer Schwerpunkt des Zentrums wird das planetarische Wohlbefinden sein, das die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen mit der Erhaltung der biologischen Vielfalt, nachhaltigen Städten, der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung daran verbindet.

Für die Universität zu Köln schafft MESH ein neues Forum und zieht Wissenschaftler*innen aus aller Welt an den Rhein. Kate Rigby schätzt dieses Umfeld: »Wir können auf eine Menge Forschungsressourcen zurückgreifen, die die Universität und ihr Netzwerk zur Verfügung stellen. Das hilft uns, Ideen zu entwickeln und mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen.«