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Chancen und Krisen

 

Von Afghanistan bis Wikileaks

Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sich für die Politik weltweit neue Herausforderungen: der Krieg in Afghanistan, die gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA oder die Enthüllungen von Wikileaks. So unterschiedlich diese Problemfelder sind, eines haben sie gemein – sie müssen verstanden werden, um zu angemessenen Entscheidungen zu gelangen.


Von Robert Hahn


In dieser Situation bietet sich die Politikwissenschaft als Gesprächspartner der Politik an. Doch gerade in Deutschland ist der Austausch zwischen Politikern und Politologen noch unzureichend ausgeprägt. Professor Thomas Jäger vom Lehrstuhl für internationale Politik und Außenpolitik erläutert, dass die Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik dazu beitragen soll, dies zu ändern. Die Zeitschrift, die seit 2008 in Köln herausgegeben und redaktionell bearbeitet wird, soll wichtige Debatten anstoßen und Praxis und Wissenschaft im Gespräch vereinen.
Die Themen reichen von der inneren und transnationalen Sicherheit bis zur internationalen Bündnispolitik. Als Diskussionsforum gibt die Zeitschrift Einblicke in die Hintergründe weltweiter politischer Entwicklungen. Professor Thomas Jäger ist froh über die Resonanz auf die Publikation. „Wir bekommen sehr positive Reaktionen auf die Zeitschrift. Sie hat eine Lücke in der deutschen Zeitschriftenlandschaft geschlossen“, erklärt der Politologe. Denn die Vernetzung von politischen Praktikern und politischen Analysten ist hierzulande noch auszubauen. „Ich kann nicht sagen, wir hätten in Deutschland das Maß an Austausch erreicht, das erforderlich und wünschenswert ist.“ Es würden noch immer ganz unterschiedliche Sprachen gesprochen und ganz unterschiedliche Themen aufgegriffen. „Einige Themen, die die deutsche Außenpolitik prominent gesetzt hat, werden in der Wissenschaft nicht ausreichend reflektiert, wie zum Beispiel der Krieg in Afghanistan oder die Entwicklung Zentralasiens. Das ist stark optimierungsfähig.“ Die Bedeutung solcher Debatten geht aber über die rein operationelle Ebene des Austauschs politischen Know-Hows hinaus. Sie hat gesellschaftspolitische Bedeutung für Deutschland.



Wichtige Debatten anstoßen

Beispiel Afghanistan: In Deutschland gibt es seit Jahren einen breiten gesellschaftlichen Konsens gegen den Afghanistan-Krieg. „Es gibt auch bei vielen politisch Beteiligten erhebliche Zweifel an dem was sie tun: Was machen wir überhaupt in Afghanistan? Die gesellschaftliche Debatte aber, die Antworten einfordern würde, wird nicht geführt. Welche Ziele verfolgen wir? Welchen Zweck hat das? Diese Auseinandersetzung fehlt.“ Die sogenannte Politikverdrossenheit in Deutschland habe unter anderem darin ihren Grund. „Wenn über viele Jahre Politik und öffentliche Meinung in mehreren Fragen auseinanderfallen, so als lebe man in unterschiedlichen Welten, dann verliert Politik ihre Legitimität.“

Die Rolle der Wissenschaft in diesem Gespräch sei die des Lieferanten von Hintergrundwissen: „Wissenschaft kann Analyse leisten. Sie kann helfen, politische Entwicklungen frühzeitig zu verstehen und die Einflussnahme vorzubereiten.“ Wie zum Beispiel im Fall der Midterm-Wahlen in den Vereinigten Staaten. Was bedeutet es für die deutsche Politik, wenn sich damit die Bewegung hin zu einem schwachen Staat verstetigt, wenn die amerikanische Gesundheitsreform zurückgedreht wird oder eine Außenpolitik mit niedrigem Profil angelegt wird? „Da hat die Politik ihre Beobachter, da haben die Wissenschaftler ihre Beobachter und die sollten sich noch stärker austauschten.“



Beispiel Wikileaks

Mit welchen neuen Phänomenen Politiker und Politologen es dabei zu tun haben, zeigt der aktuelle Fall von Wikileaks. Die Welle von Veröffentlichungen geheimer US-Depeschen, der die politische Welt in Atem hält, ist auf den ersten Blick das Werk einiger weniger Aktivisten. Doch ein Blick hinter die Kulissen verrät, was Wikileaks erst möglich machte: „Das Grundprinzip der Staaten bei der Art und Weise wie Informationen zwischen Bürokratien laufen war, nur diejenigen Informationen zu teilen, die man teilen muss“, erklärt Thomas Jäger. Mit dem 11. September 2001 änderte sich dies. In der Aufarbeitung der Katastrophe stellte man fest, dass unterschiedliche Bürokratien über eine ganze Reihe von Informationen verfügten, die nur niemand zusammengefasst hatte.
Die Reaktion der amerikanischen Regierung war der Umbau ihres Metanetzes, des SIPRNets, das seitdem ganz unterschiedliche Ministerien miteinander verbindet und in das diese Institutionen ihre Informationen einspeisen konnten. Seit 2007 gehörte auch das State Departement dazu.



Gläserner Bürger – gläserner Staat

Die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen stammten alle aus diesem Netz, in das unterschiedliche Bürokratien ihre Berichte, Dokumente und Informationen einspeisen und auf das nach dem Umbau nun etwa zweieinhalb Millionen Mitarbeiter Zugriff haben. „Die wirklich geheimen Dokumente werden dort nicht eingestellt“, erklärt Jäger. „Es wird aber eben auch vieles intern öffentlich gemacht, von dem die Regierung denkt: Das könnte auch andere interessieren.“ Das Prinzip, nur diejenige Information zu teilen, die man auch teilen musste, wurde dadurch auf den Kopf gestellt. Stattdessen war man nun bemüht, möglichst viele Informationen zusammenzutragen und zu teilen. „Vor diesem Hintergrund ist die Geheimhaltung natürlich viel schwieriger“, so Jäger. Hinzu kommt, dass sich in der letzten Dekade der Umgang mit persönlichen oder vertraulichen Daten geändert hat. Während der Regierung Bush wurden Bürger vom Staat überwacht und Daten gesammelt. „Das trägt natürlich dazu bei, dass es auf einmal normal wird, Informationen herauszugeben. Wenn das der Staat macht, macht es jeder“, so Jäger. Die Transparenz der Daten gelte damit nicht mehr nur für den Bürger: „Die Staaten haben gläserne Bürger gemacht, das wird jetzt zurückgeworfen und der Staat wird auch gläsern.“



Diplomatie im Zeitalter der elektronischen Datenspeicherung

Eine Fülle weiterer Fragen stellt sich nach dem Desaster für die amerikanische Außenpolitik: Wird jetzt die Zahl der internationalen Gesprächspartner abnehmen, weil man der Geheimhaltung in den USA misstraut? Oder können die Vereinigten Staaten mit Hilfe wirtschaftlicher Ressourcen das Fiasko wieder wett machen? Wird das Prinzip, möglichst viel Information zu teilen, wieder umgedreht? Das wäre eine nachhaltige Entwicklung nicht nur für die interadministrative Kooperation in den USA, sondern auch für die Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern.

Eine weitere Frage ist, welches Bild die Veröffentlichungen von der Funktion der klassischen Diplomatie zeichnen. „So richtig Neues ist ja bisher nicht herausgekommen“, erklärt Jäger. „Dass man Karzai für korrupt hält, das wusste jeder vorher. Ich habe noch nicht eine wirkliche Neuigkeit gefunden.“ Der Kölner Politologe sieht die Aufgaben der Diplomatie deshalb weiterhin in der stetigen Analyse der politischen Situation des Gastlandes. „Es ist eine wichtige Aufgabe des diplomatischen Dienstes, neben dieser manchmal auch hysterisierten öffentlichen Meinung, zu entdecken, wo die politischen Kräfte hinziehen. Wo sich bestimmte Mehrheiten bilden, wo sich neue Themen auftun, wo sich neue politischen Kräfte formieren.“



Interesse von beiden Seiten

Die Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik soll die Diskussionsplattform für die Debatte über solche wichtige Themen sein. Denn sowohl Politiker als auch Wissenschaftler suchen durchaus das Gespräch, so Jäger: „Eine Motivation die Zeitschrift zu gründen war, dass auf Konferenzen die Gespräche funktionierten. Nach der Konferenz ging aber wieder jeder in seinen Bereich.“ Der Kölner Politologe setzte sich zum Ziel, die Kommunikation zwischen beiden Gruppen zu verstetigen – das Gespräch musste einen Ort finden. Den Grund für die oft mangelnde Vernetzung von politischen Praktikern und politischen Analysten in Deutschland sieht Jäger in den Besonderheiten der deutschen Parteiendemokratie: In Deutschland werden politische Karrieren über die Parteien gemacht und nur dort.

„In den Vereinigten Staaten spricht man hingegen von einer Drehtür: Man ist Politiker, dann geht man in einen Think Tank, eine Universität oder hat einen Job in der Wirtschaft. Dann kehrt man zurück. Das führt zu einer viel engeren Vernetzung von Kenntnissen in diesen Bereichen.“ Wie sich die deutsche Politik den genannten Ereignissen gegenüber verhält, welche politischen Entwicklungen im Vorhinein erkannt werden können, das hängt nicht zuletzt von der frühzeitigen Analyse ihrer Hintergründe ab. „Das bedeutet, dass man sich Fragen nicht erst dann widmen sollte, wenn sie sich öffentlich stellen“, so Thomas Jäger. „Zur Kenntnis tiefer liegender Entwicklungen hat die Politikwissenschaft wesentlich beizutragen.