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Auf dem Weg zu einer modernen Volkswirtschaft

Mit der Öffnung für den freien Markt erlebt Myanmar einen urbanen Umschwung

 

Im Schatten der großen Wirtschaftsmächte Asiens haben sich die südostasiatischen Länder zu einer Interessensgemeinschaft zusammengetan und erleben zurzeit einen ungeahnten Aufschwung. Die ASEAN Economic Community, kurz AEC, der Länder wie Indonesien, Malaysia, Thailand, Vietnam und Singapur angehören, will bis 2015 ihre Handelsschranken mehrheitlich fallen lassen und damit den Transfer von Gütern, Dienstleistungen, Investitionen und Arbeitskräften erhöhen. Für 2014 hat Myanmar erstmals den AEC-Vorsitz inne. Das in den 1960er Jahren sozialistisch geprägte Land mit buddhistischer Tradition steht erst am Anfang einer modernen Volkswirtschaft.

Frauke Kraas, Professorin für Stadt- und Kulturgeographie am Geographischen Institut der Universität zu Köln und Expertin für Megastädte untersucht die Urbanisierungsprozesse und sozioökonomischen Entwicklungspotenziale in dem Land.

Wie bringt man Forschungsgelder aus Deutschland in ein Land, in dem es erst seit kurzem ein Bankensystem gibt? Der Forschungsaufenthalt von Frauke Kraas in Myanmar stellt auch die Verwaltung der Uni Köln vor neue Herausforderungen. Es musste schnell eine unkomplizierte und unkonventionelle Lösung gefunden werden und die bedeutete in diesem Fall: Bargeld mitzunehmen. „Es sind absolute Pionieraufgaben“, resümiert Kraas. „Eine Bank, bei der man Geld abheben konnte, gab es bis vor kurzem in Myanmar nicht. Das mitgenommene Bargeld mussten wir über verschiedene Kanäle wechseln.“

Zwei Jahre lang ist Frauke Kraas vor Ort gewesen. Als erste und vermutlich einzige ausländische Wissenschaftlerin erforscht sie, wie sich das Städtesystem, vor allem die ehemalige Hauptstadt Yangon und weitere Regionalstädte, verändert, seit Myanmar sich für in- und ausländische Investoren geöffnet hat. Die Universität zu Köln, erzählt sie, habe hier eine wissenschaftliche Vorreiterrolle.

Marktwirtschaftliche Reformen führen zu einem Bauboom

In der Entwicklung des südostasiatischen Raums nimmt Myanmar seine ganz eigene Rolle ein. Bis 1988 war die ehemalige britische Kolonie durch eine Zentralverwaltungswirtschaft geprägt. Wirtschaftliches Wachstum, wenn überhaupt vorhanden, war mit staatlich finanzierten Sozialprogrammen verbunden. Die strikte Planwirtschaft koppelte Myanmar, das damals noch Birma hieß, nahezu vollständig von den globalen Märkten ab. Birma wurde in die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder eingestuft und erhielt internationale Wirtschaftshilfen. Mit ihrer Machtübernahme 1988 kündigte die Militärjunta marktwirtschaftliche Reformen an, die auf eine Stärkung der einheimischen Privatwirtschaft zielten. Der Paradigmenwechsel ließ die Wirtschaft Anfang dieses Jahrtausends um zehn Prozent anwachsen.

In allen Teilen der Stadt Yangon, wo sich die Auswirkungen der freien Marktwirtschaft am besten beobachten lassen, hat sich ein massiver Bauboom entwickelt. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei das staatliche Department für Siedlungs- und Bauentwicklung. Es erhielt mit der Öffnung des Landes in Richtung freier Marktwirtschaft die Aufgabe eines Vermittlers von Bauaktivitäten mit mehr finanzieller Autonomie und einem neuen Umlauffond zur Förderung der Bauentwicklung. Die Regierungspolitik verfolgt dabei vier wesentliche Ziele: die Ausdehnung von Yangon City nach Westen und Osten, um Transport- und Kommunikationswege zu verbessern, die Modernisierung von Yangon, sozialen Wohnungsbau und die Erhöhung des Lebensstandards.

Letzteres soll vor allem durch das Projekt „hut to apartment“ gewährleistet werden. Es soll einfache Hütten durch neuen Wohnraum ersetzen. 46 Hut-to-apartment-Projekte wurden nach 1989 gestartet, rund 12.600 Wohnungen neu gebaut. Neben dem Wohnungsbau investieren Regierung und Unternehmen in die Erneuerung von Straßen und Brücken, in Einkaufszentren und Tourismus. Traditionelle Märkte weichen modernen Einkaufszentren am Stadtrand; moderne Straßen und Brücken sollen Verkehrsverbindungen zu den neu entstandenen Townships in der Peripherie herstellen.

Zusammen mit ihrem Forschungsteam untersucht Frauke Kraas die Veränderungsprozesse und georeferenziert Funktionen. „Wir haben das erste geografische Informationssystem zu Yangon aufgebaut“, erläutert sie eine aktuelle Bestandsaufnahme. „Bis auf vier Meter genau können wir die gesamte Landnutzung von Yangon offenlegen.“

Arbeiten auf Zuruf

Aus Myanmar werden vor allem Rohstoffe – Reis und einheimische Hölzer, aber auch Öl und Erdgas – nach Thailand, Honkong und Indien exportiert. 70 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, 23 Prozent im Dienstleistungssektor und nur 7 Prozent in der Industrie. Auch deshalb sehen die Migrationsbewegungen in Myanmar ganz anders aus als beispielsweise in China. „Wir haben es mit anderen Migrationsprofilen zu tun“, erläutert Frauke Kraas. „In Myanmar haben wir keine stark von der Industrialisierung getriebene Migration. Die Bevölkerung ist nach wie vor sehr in soziale und familiäre Strukturen eingebunden. Anders als in China, wo der ökonomische Zwang besteht zu migrieren.“

Die myanmarische Gesellschaft funktioniert vor allem durch Zuruf. Es gibt keine Langzeitplanungen. „Ein völlig anderes Arbeiten, als wir es von Deutschland kennen“, weiß Kraas. „Man muss ständig ‚alert’ sein“. Der Forschungsalltag stellt Frauke Kraas und ihr Team täglich vor neue Herausforderungen. Der Zugang zum Internet ist stark begrenzt, oft gibt es noch nicht einmal Strom. Während der Regenzeit sind die Straßen überflutet, Frauke Kraas muss ihre Kinder manchmal zu Fuß durch hüfthohes Wasser zur Schule bringen. „Die Schuhe können sie hinterher wegwerfen“, sagt sie. Trotzdem muss sie permanent Höchstleistungen erbringen, zum Beispiel kurzfristig einer Delegation von ihren Forschungsergebnissen referieren oder spontan einen Vortrag beim Minister halten – in standesgemäßer Kleidung, denn das erwartet die myanmarische Gesellschaft von allen als Zeichen der Höflichkeit.

„Glücklicherweise bin ich in der Gesellschaft sehr gut vernetzt“, erzählt Kraas. Nur so sei es möglich, auf den ständig hochflexiblen Alltag reagieren zu können. Die Wissenschaftlerin hat mit ihrer Familie auf dem Campus gelebt, einem sonst für Ausländer komplett gesperrten Bereich; sie beherrscht die Landessprache und hat intensive Einblicke in die Kultur. Ein Vertrauensverhältnis, das ein entscheidender Ausgangspunkt für ihre Forschungsarbeiten vor Ort ist. „Die Universität zu Köln“, so Kraas, „ist die einzige Universität weltweit mit mehreren unbefristeten Memorandi of Understanding, und das schon seit 2003. Das ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.“

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) bewilligte der Wissenschaftlerin eine Langzeitdozentur, die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Forschungsjahr. Für zwei Jahre zog Frauke Kraas mit ihrer Familie nach Myanmar und wird schon bald zu weiteren Forschungszwecken dorthin zurückkehren. Im Rahmen des Projekts „81 Plus“ untersucht sie die sozioökonomischen Entwicklungspotenziale von 81 führenden Städten in Myanmar. Besonderes Augenmerk gilt der Entwicklung der Stadt Yangon und ihrem kolonialen Erbe.

Durch die Öffnung für ausländische Investoren und die Verlegung des Regierungssitzes ins Landesinnere nach Nay Pyi Daw ist die ehemalige Hauptstadt extrem im Umbruch. In Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) untersucht das Kölner Team die sozioökonomischen Entwicklungspotenziale von vier Regionalstädten. Hier will die GIZ Regionalbüros vor Ort aufbauen – absolute Pionierarbeit, denn bis dato ist Myanmar in punkto Entwicklungszusammenarbeit Neuland.

Seit 2007 leben weltweit erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land

Myanmar ist auf dem Weg zu einer urbanisierten und industrialisierten Gesellschaft. Viele Entwicklungen sind vergleichbar mit denen anderer südostasiatischer Länder seit dem Beginn des Wirtschaftsbooms und der Einführung ökonomischer Reformen Mitte der 80er Jahre. Damit folgt auch Myanmar dem Trend einer urbanen Wende, nach der seit 2007 erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben. Ein schwieriger Vergleich, glaubt Kraas, denn ab wieviel Einwohnern eine Ortschaft als Stadt definiert wird, unterscheidet zwischen den Ländern deutlich. Hinzu kommen Phänomene wie saisonal fluktuierende Migration, bei der Menschen in landwirtschaftlichen Ruhephasen in die Städte migrieren, so dass die Bevölkerungszahlen stark schwanken.

Die Städte Asiens müssen in Zukunft eine weitaus bessere Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen bereitstellen. Aber das würde in machen Staaten durchaus anderes gesehen als in Europa, weiß Kraas, denn der Fokus liegt in Asien auf der Optimierung für Wirtschaftswachstum und urbane Mittelschichten. Das wird nach der Entscheidung der Regierung in Myanmar anders aussehen: Hier will man eine „dekonzentrierte Dezentralisierung“ nach deutschem Vorbild umsetzen. Welche Rolle Myanmar in Zukunft im globalen Markt spielen wird, bleibt abzuwarten.

Entwicklungsprognosen über die kommenden 50 Jahre hält Kraas für unseriös. Trotzdem ist die Wissenschaftlerin davon überzeugt, dass der globale Urbanisierungstrend grundsätzlich anhalten wird. „Wie er aussehen wird, hängt von einzelnen Motoren ab, und die sind vielfältiger geworden. Wir reden von multi-stakeholder-environments, in denen die Privatwirtschaft viel mehr das Sagen hat als die Administration.“ Das jedoch sei von Land zu Land und von Stadt zu Stadt unterschiedlich.