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Krieg und Frieden

Das Vermächtnis von Nürnberg

 

Mehr als hundert Staaten haben auf einer Konferenz in Uganda das Führen eines Angriffskriegs zu einem Verbrechen erklärt. Vorausgegangen waren eine dramatische Debatte und zähe Verhandlungen. Der Kölner Juraprofessor Claus Kreß war Mitglied der deutschen Regierungsdelegation in Kampala.

Eine Katastrophe wie den Zweiten Weltkrieg sollte es nie wieder geben. Darüber waren sich die Alliierten 1945 einig. In den Nürnberger Prozessen bezeichneten die Richter das Führen eines Angriffskriegs als schwerstes internationales Verbrechen und verurteilten verantwortliche Personen. Doch der Prozess richtete sich nur gegen eine Seite. Schnell kam der Vorwurf einer Siegerjustiz auf. Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson betonte daher, dass der Nürnberger Präzedenzfall gegen den Angriffskrieg zukünftig für alle Nationen gelten solle. Das war allerdings ein Vorsatz, der viele Jahrzehnte lang unerfüllt blieb.

Erst 2010 kam es zu einem Durchbruch: In der ugandischen Hauptstadt Kampala einigten sich mehr als hundert Staaten auf einen rechtlichen Rahmen für das Verbrechen der Aggression. Für das Führen eines Angriffskrieges sollen in Zukunft Individuen persönlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Verantwortung gezogen werden. Damit sandten die Vertragsstaaten dieses Gerichtshofs ein deutliches Signal in die Welt. Das Ergebnis von Kampala dürfte auch für diejenigen Staaten von Bedeutung sein, die den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennen.

Zwischen Wissenschaft und Diplomatie

Der Kölner Straf- und Völkerrechtler Claus Kreß war Mitglied der deutschen Regierungsdelegation in Kampala. In den zähen Verhandlungen musste er Wissenschaft und Diplomatie geschickt miteinander verbinden. Heute wirkt er erleichtert: „Bei Kampala ging es um eine fast hundertjährige internationale Debatte und um das Vermächtnis von Nürnberg. Ich bin sehr glücklich darüber, dass das Fenster der Möglichkeit zu einem Durchbruch genutzt worden ist, und das sogar im Konsens.“

Mit seinen beiden Forschungsschwerpunkten, dem Internationalen Strafrecht und dem Völkerrecht der Friedenssicherung, verknüpft Kreß an der Universität zu Köln zwei Fächer, die in der deutschen Wissenschaftslandschaft sehr selten miteinander verbunden sind. Diese Kombination konnte er bei der wissenschaftlichen Beratung der Bundesregierung vor und in Kampala fruchtbar machen. Seitdem das Völkerstrafrecht in den 1990er Jahren eine Renaissance erlebte, ist er einer der profiliertesten Spezialisten auf dem Gebiet. Der renommierte Rechtswissenschaftler hat zudem vier Jahre im Bundesministerium für Justiz gearbeitet und so schon als Ministerialbeamter an der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mitgewirkt. Inzwischen ist er seit 14 Jahren für Deutschland bei den internationalen Konferenzen zum Völkerstrafrecht mit von der Partie und hat dabei so manche spannende Verhandlungsnacht erlebt.

Von Rom nach Kampala

Kreß bezeichnet den Ablauf in Kampala als ähnlich dramatisch wie jene Völkerrechtskonferenz mit fast revolutionären Folgen, die 1998 in Rom stattfand. Damals einigten sich 121 Staaten im Vertragswege auf die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs, bei dem es sich um das erste ständige internationale Strafgericht der Rechtsgeschichte handelt. Vorangegangen war die Gründung spezieller internationaler Straftribunale durch den Weltsicherheitsrat, um die in Jugoslawien seit 1992 und in Ruanda 1994 begangenen schweren Verbrechen zu ahnden. Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag umfasst die wenigen nach Völkerrecht strafbaren Verbrechen, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und eben auch das Verbrechen der Aggression. Auf eine Definition dieser Völkerstraftat konnten sich die Staaten jedoch in Rom nicht einigen.

Zu groß schien vielen Nationen offenbar immer noch die Gefahr, dass eines Tages ihr eigenes Staatsoberhaupt in Den Haag angeklagt und verurteilt werden könne. Doch ein Teil der Staaten, darunter auch Deutschland, blieb hartnäckig und bekam am Ende dank eines geschickten diplomatischen Zugs einen entscheidenden Fuß in die Tür: Das Thema des Aggressionsverbrechens wurde nicht still begraben. Vielmehr fand ein Passus Eingang in das in der letzten Sekunde geschnürte Kompromisspaket, der die Vertragsstaaten in die Pflicht nahm, bei nächster Gelegenheit zu definieren, was unter dem Verbrechen der Aggression genau zu verstehen sei.

Die Hürden von Kampala

Man könnte annehmen, dieses Verbrechen sei leicht zu definieren. Immerhin ist das Verbot der Anwendung bewaffneter Gewalt seit 1945 in der UN-Charta festgeschrieben. Im Kern geht es bei der Straftat der Aggression um die Beteiligung eines Staatsführers an der Verletzung dieses Verbots. Doch was ist mit kleineren Grenzscharmützeln, die in mehreren Regionen der Welt leider immer noch nicht selten sind, aber nicht zwangsläufig zu Verletzten oder gar Toten führen? Und was ist mit humanitär motivierten Gewalteinsätzen wie etwa 1999 im Kosovo, über deren Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht unter Experten heftig gestritten wird? Die Vertragsstaaten einigten sich darauf, den Gerichtshof weder mit vergleichsweise geringfügigen noch mit rechtlich ernsthaft umstrittenen Fällen zu belasten, um die noch so junge internationale Strafgerichtsbarkeit nicht zu überfordern.

Der größte und bis zuletzt fast unüberwindlich erscheinende Streitpunkt war die Rolle des UN-Sicherheitsrats. Die fünf ständigen Mitglieder beharrten darauf, dass der Gerichtshof beim Verdacht auf ein Aggressionsverbrechen nur mit Zustimmung des Sicherheitsrats tätig werden dürfe. Die überwältigende Mehrheit der Staaten empfand diese Forderung indessen wegen des Vetorechts dieser fünf Staaten als unvereinbar mit dem Grundprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Augen richteten sich deshalb vor allem auf die beiden Mitglieder des Sicherheitsrats, die in Kampala als Vertragsstaaten zur Abstimmung berechtigt waren: Großbritannien und Frankreich.

Kein einfacher Kompromiss

Am Ende gaben diese beiden Staaten nach. Doch der zu entrichtende „Preis“ war hoch. Zum einen bleibt das Führungspersonal von Staaten, die dem Gründungsvertrag über den Gerichtshof nicht zugestimmt haben, außerhalb von dessen Zuständigkeit, wenn nicht der Sicherheitsrat etwas anderes beschließt. Und darüber hinaus können selbst Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs erklären, bezüglich des Verbrechens der Aggression nicht unter dessen Zuständigkeit fallen zu wollen. Auch in einem solchen Fall kann nur der Sicherheitsrat die fehlende Zustimmung des jeweiligen Aggressorstaates überwinden. Dieser Kompromiss ist bescheiden und bietet Kritikern viele Angriffsflächen, für Kreß ist er aber das Äußerste, was in Kampala zu erreichen war: „Es mag sein, dass es eine Reihe von ‚opt-out‘-Erklärungen geben wird“, räumt der Völkerrechtler ein. „Die psychologische Schwelle ist allerdings hoch. Denn weltweit und insbesondere in den Parlamenten demokratischer Staaten wird die unbequeme Frage gestellt werden, warum sich die betreffende Regierung der Gerichtsbarkeit über einen eng definierten Tatbestand der Aggression entziehen möchte.“

Nicht ohne die USA

Für den Erfolg von Kampala galt es auch eine Konfrontation zwischen den Vertragsstaaten und den USA zu vermeiden. Die Delegation der USA war nach einer langen Phase der Politik des leeren Stuhls kurz vor Kampala an den Verhandlungstisch zurückgekehrt und äußerte sogleich erhebliche Bedenken hinsichtlich des bereits erzielten Zwischenstands. Das löste bei einem großen Teil der Delegierten natürlich negative Reaktionen aus. Viele sprachen sich dafür aus, den Amerikanern eine klare Absage zu erteilen. Rein formell betrachtet wäre das möglich gewesen. Denn die USA waren als Nichtvertragsstaat nicht abstimmungsberechtigt. Doch wäre „ein frontaler Zusammenstoß bei einem Thema wie Krieg und Frieden, das die Weltmacht USA so fundamental betrifft, sehr problematisch gewesen“. Und so schlug Kreß zufolge in diesem Moment „die Stunde der Diplomatie“. Tatsächlich ließ sich auch an dieser Stelle am Ende noch ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation finden. Die Delegationen einigten sich auf eine Reihe von subtilen Auslegungserklärungen, die wichtige Anliegen der Amerikaner aufgriffen, ohne den bereits gefundenen Kompromiss im Kern anzutasten.

Den Kriegen des 21. Jahrhunderts gerecht?

Im Vertrag von Kampala sind verschiedene Erscheinungsformen von Gewalt aufgelistet, die zu einer Anklage wegen eines Aggressionsverbrechens führen können. Darunter fallen beispielsweise Bombardierungen, Bodeninvasionen und Hafenblockaden. Aber sind das wirklich die Kriege der Zukunft? Im Sommer 2010 sorgte der Computerwurm Stuxnet für Aufruhr. Die Cyberattacke richtete sich gegen das iranische Atomprogramm. Wer hinter diesem Angriff steckt, ist bis heute offiziell nicht geklärt, auch wenn alles auf eine Urheberschaft der USA und Israels hindeutet. Spätestens seit diesem Vorfall kann die Staatengemeinschaft nicht mehr die Augen vor der Gefahr eines Cyberkrieges verschließen. Das wirft dann auch die Frage auf, ob die Liste der im Kampalavertrag vermerkten Gewaltakte abschließend ist oder nicht. Die Diskussion über „cyberwarfare“ gewinnt deshalb im Völkerrecht gerade deutlich an Fahrt, und die entsprechenden Fragen gehören zu denen, über die sich der Völkerrechtsprofessor Kreß an dem von ihm im letzten Jahr gegründeten Institute for International Peace and Security Law den Kopf zerbricht.

Des Weiteren sind im 21. Jahrhundert Terroranschläge für viele Staaten eine wahrscheinlichere Bedrohung als ein Angriffskrieg. Doch terroristische Netzwerke wie al-Qaida sind von dem Tatbestand des Aggressionsverbrechens nicht erfasst, solange sie nicht im Auftrag eines Staates handeln. Allerdings gibt es bei der Verfolgung von Terroristen international ohnehin weitgehend einen Konsens. Ein Strafgericht, das sich über die Staaten stellt, ist in solchen Fällen vielleicht gar nicht notwendig. Kreß sieht diese Lücke deshalb relativ gelassen: „ An einem Willen vieler Länder, Terroristen zu verurteilen, mangelt es in der Regel nicht.“

Ein kleines Wunder erreicht

Auch wenn noch viele Fragen zum Verbrechen der Aggression offen sind, machte die Staatengemeinschaft mit den Beschlüssen von Kampala einen großen Schritt nach vorne. Bis 2017 haben die Vertragsstaaten und auch der Gerichtshof selbst Zeit, sich auf die Änderungen vorzubereiten, dann kommt es zu einer weiteren und abschließenden Abstimmung über den Vertragstext. Mindestens 30 Länder müssen ihn bis dahin ratifiziert haben. Diese Zahl mag sich zunächst gering anhören, doch ein Selbstläufer ist das bei diesem hochsensiblen Thema nicht. Deshalb wird noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten sein. Mehrere Staaten haben die in Kampala beschlossenen Änderungen bereits ratifiziert, darunter auch Deutschland. Eine Reihe anderer Staaten sind auf gutem Wege dahin. Bei der einen oder anderen Frage zum Verbrechen der Aggression werden sich die Staaten auch in Zukunft nicht einigen können. Doch der Vertragstext von Kampala wird nach der Überzeugung des Kölner Juristen unverändert bleiben. „In Kampala ist ein kleines Wunder erreicht worden“, resümiert Kreß, „aber es ist ein so zerbrechlicher Kompromiss, dass ein Nachverhandeln an der einen oder anderen Stelle unvorstellbar ist“.

Sebastian Grote