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Bildungssprache für Migranten

Das Modellprogramm FÖRMIG evaluiert Projekte zur Förderung der Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergund

von Robert Hahn

Bildung tut not. Spätestens seit dem PISA-Schock und der Debatte über die Einwanderung nach Deutschland richtet sich der Fokus von Politik und Öffentlichkeit auf die heranwachsende Generation von Migranten. Denn die PISA-Studie zeigt, dass das schlechte Abschneiden dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland auf mangelnde Förderung im Bildungssystem zurückzuführen ist. Viel zu lange wurde offensichtlich die besondere sprachliche Situation der Kinder nicht beachtet. Geringer schulischer Erfolg und eine ungewisse Integration in die deutsche Gesellschaft sind die Folgen.

Das Problem drängt, denn die Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund stellen vielerorts einen großen Teil der Schüler, in Köln sogar bis zu 50 Prozent der Abgangsklassen 9 und 10. Wie soll man diese Kinder fördern? Welche didaktischen und strukturellen Maßnahmen wären notwendig, um den schulischen Erfolg der Kinder zu verbessern? Antworten auf diese brennenden Fragen soll das seit 2004 laufende Modellprogramm ?FÖRMIG - Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund? der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) geben. Es wird unter anderem von Professor Hans-Joachim Roth vom Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaft der Universität zu Köln als Programmträger wissenschaftlich begleitet.

Kurz nach acht Uhr morgens in Kalk. In dem von Einwanderern geprägten Kölner Stadtteil steht unweit der Hauptstraße die Grüneberg Grundschule. Helle Flure durchziehen den Bau aus den 70er Jahren, Mäntel und Jacken der Schüler hängen an den Kleiderhaken vor den Klassenzimmern. Hinter einer der grünen Türen unterrichtet die Deutschlehrerin Monika Lüth ihre kleinen Schützlinge. In dem liebevoll von den Kindern eingerichteten Raum verzieren bunte Bilder die Wände, auf der Fensterbank wächst selbst gesätes Gras aus einer Reihe von drolligen Köpfen aus Sackleinen. Auf einer der Wandtafeln sind die Schulregeln aufgeschrieben: ?Ab acht Uhr dürfen wir in unsere Klassen gehen.? Daneben hängen die Satzbeispiele aus der letzten Lehrstunde. Eine freundliche kleine Welt für Kinder. Heute soll hier der korrekte Gebrauch der grammatikalischen Fälle geübt werden.

Die 24 Schülerinnen und Schüler der Klasse 2c...

...sitzen im Kreis um die Pädagogin, die ihnen eine Geschichte erzählt. Ihre Nichte habe sie angerufen, weil sie sich so vor einem Gruselfilm gefürchtet habe. Ob die Kinder auch schon mal einen Gruselfilm gesehen hätten? Die Kinder sind sofort Feuer und Flamme für das Thema und erzählen begeistert von ihren Gruselfilmerfahrungen. ?Meine Nichte mag aber keinen Gruselfilm?, erklärt Monika Lüth. ?Sie hat mir gesagt: ?Ich mag keinen Gruselfilm.?? Rhythmisch singt sie vor:?Ich mag kein-nen Gru-sel-film? und schnippst zweimal dazu. Die Kinder singen Silbe für Silbe mit. Was wie ein normaler Schultag an einer deutschen Grundschule aussieht, hat einen besonderen gesellschaftlichen Hintergrund, denn die rund 280 Schüler der Kalker Gemeinschaftsgrundschule stammen aus aller Herren Länder. Mehr als achtzig Prozent von ihnen haben einen sogenannten Migrationshintergrund: Sie kommen aus der Türkei, Marokko, Serbien oder anderen Ländern. Für sie ist Deutsch die Zweitsprache, in die sie sich erst hineinfinden müssen. Eine Tatsache, die von den Pädagogen große Sensibilität für die besondere sprachliche Situation der Schüler verlangt, wie Monika Lüth betont: ?Die Umwelt der Kinder zwingt sie dazu, deutsch zu sprechen, allerdings oft so, dass es nicht immer grammatikalisch korrekt ist. Und durch dieses häufige unkorrekte Sprechen schleichen sich falsche Sprachgewohnheiten ein, die wir aufzubrechen versuchen.?

Die engagierte Pädagogin ist über ihre tägliche Arbeit mit Kindern hinaus noch als FÖRMIG-Koordinatorin für das Kölner Z.M.I. (Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration) tätig, in dem eine Vielzahl von Projekten und Programmen in Zusammenarbeit von Stadt, Bezirksregierung und Universität zusammengefasst sind. FÖRMIG läuft seit September 2004 und soll Möglichkeiten evaluieren, Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien eine bessere sprachliche Förderung zu bieten, um ihre Erfolgschancen an deutschen Schulen zu erhöhen.

Durch Sprache zum Schulerfolg

Was Monika Lüth täglich mit ihren Schülern einübt, folgt den Maßgaben des ?DemeK?- Programms (Deutsch in mehrsprachigen Klassen). ?DemeK? wurde von der Bezirksregierung initiert und hat die Verbesserung der Qualität des gesamten Unterrichts sowie die Fortbildung interessierter Kollegien zum Ziel.

Eine Reihe ähnlicher Programme wie ?DemeK? werden wissenschaftlich von Professor Hans-Joachim Roth vom Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaft evaluiert. Roth ist einer der Programmträger und wissenschaftlichen Begleiter des FÖRMIG-Programmes der BLK, an dem die Grüneberg Grundschule mit acht weiteren Kölner Grundschulen teilnimmt. Der Kölner Professor betreut für FÖRMIG alle im Programm eingebundenen nordrhein-westfälischen Schulen und ist insbesondere für die sprachdiagnostischen Fragen des Projekts und ihren Anschluss an den Bildungsalltag zuständig.

FÖRMIG zielt darauf, innovative Ansätze der Länder zur Optimierung von sprachlicher Förderung weiterzuentwickeln. Dafür werden bereits bestehende Programme verschiedenster Träger, wie der Kommunen oder konfessionell orientierter Institutionen vom Kindergarten über die Grundschule bis zu den weiterführenden Schulen, evaluiert.

Die wissenschaftliche Auswertung der Konzeption von konkreten Projekten und deren Umsetzung im Alltag soll als Grundlage für den Transfer guter Praxis zwischen den beteiligten Ländern dienen. Zehn der sechzehn Bundesländer nehmen an dem Programm teil, das besonders die Schnittstellen in der Bildungsbiographie der Migrantenkinder im Auge hat: vom Kindergarten in die Grundschule, in weiterführende Schulen und schließlich in den Beruf.

Neue Wege durch Kooperation

Das Modellprogramm geht dabei strukturell neue Wege. Eingeführt wurde eine Form der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen, die die Grenzen des klassischen Bildungssystems überschreitet. So kooperieren in FÖRMIG verschiedene Bildungsinstitutionen als Basiseinheiten, wie zum Beispiel zwei Kitas, die zu einer Grundschule hinführen, eine weiterführende Schule und ein Elternverein miteinander. Dieses Set an Institutionen soll helfen, 26 durch gemeinsame Sprachförderung die bildungsbiographischen Übergänge zwischen ihnen zu überbrücken.

Die ?Entwicklungspartnerschaft? beruht auf dem gegenseitigen Übereinkommen der Beteiligten, über einen längeren Zeitraum ein gemeinsames pädagogisches Modell zu verfolgen. Dabei sind die Qualifizierung von sogenannten Multiplikatoren ? pädagogischen Fachkräften, die im jeweiligen pädagogischen Ansatz weitergebildet werden ? und die regionale Verfestigung der Projekte eine Aufgabe der Basiseinheiten. Hintergrund ist hierbei das Bestreben von FÖRMIG, die lokalen Projekte auch nach Ablauf des FÖRMIG-Programmes funktionsfähig zu halten.

Evaluation und Förderung

Bei der Evaluation der einzelnen Einrichtungen richten die Forscher ihr Augenmerk auf das jeweilige pädagogische Konzept, seine Umsetzung, seine Akzeptanz durch Pädagogen und Eltern und die Qualität der Maßnahmen. Um diese Aspekte zu untersuchen, befragen die Wissenschaftler die Pädagogen und Eltern zu den sozialen und sprachlichen Bedingungen in den Familien und zur Arbeit in den Gruppen und führen Sprachstandserhebungen bei den Kindern durch, um objektiv messbare Effekte der Maßnahmen zu ermitteln.

Die Ergebnisse der Evaluationen werden an die beteiligten Einrichtungen zurückgegeben; auf dieser Grundlage werden Empfehlungen für Verbesserungen überlegt und entschieden. Da die Phase der Evaluation für die meisten Projektbeteiligten bereits abgeschlossen ist, konzentrieren sich die Wissenschaftler nun auf die Umsetzung der Optimierungen. Und da bietet FÖRMIG eine ganze Palette an unterstützenden Ressourcen und Hilfestellungen für die beteiligten Projekte: Fortbildungsmaßnahmen, Beratung bei der Konzipierung eigener Maßnahmen, Bereitstellung von Themenmaterialien, Vermittlung von Expertisen und Kontakten, die Unterstützung bei der Einrichtung von regionalen Internetfachportalen und schließlich die länderübergreifende Vernetzung mit anderen Basiseinheiten, um Wissen zu vermitteln. 

Mit Ausdrucksfähigkeit zum schulischen Erfolg

Dabei geht es Hans-Joachim Roth und seinen Kollegen nicht so sehr um den allgemeinen Spracherwerb der Kinder. Die Wissenschaftler wollen vielmehr konkret den schulischen Erfolg der Kinder mit Migrationshintergrund ermöglichen: ?FÖRMIG hat vor allem die Zielsetzung, die sprachliche Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf eine andere Ebene zu bringen und gezielt an der Bildungssprache anzusetzen?, erklärt der Kölner Forscher. ?Es geht also nicht um eine Förderung der Alltagssprache, sondern um eine Sprachförderung, die gezielt an diesen Typus der Sprache ansetzt, der für die Schule wesentlich ist.? Das bezieht sich nicht nur auf die schriftliche, sondern auch auf die mündliche Ausdrucksfähigkeit der Schüler, denn sie ist zunehmend für den schulischen Erfolg der Kinder wichtig. ?Es kommt darauf an, nicht irgendwie das Sprechen zu fördern, sondern dieses spezifische Sprechen, das den Bildungserfolg ausmacht. Die Fachnoten hängen letztlich davon ab, mit welchen sprachlichen Fähigkeiten man am Unterricht teilnimmt.?

In der Grüneberg Schule geht es weiter in der Runde. Die Lehrerin fragt die kleinen Schulbesucher: ?Und mit wem möchtest du dir den Gruselfilm anschauen? Mit dem Vater oder mit der Mutter?? Die Antworten werden reihum aus dem Kreis gegeben. Monika Lüth zieht ein Blatt aus einem Stapel. Groß steht ?Opa? darauf geschrieben. ?Mit wem?? Dem Vater, der Mutter: Jedes Kind muss ein anderes Wort verwenden und dabei die Präposition ?mit? mit dem richtigen grammatikalischen Fall benutzen. Monika Lüth korrigiert Fehler und lobt die Schüler. ?Durch ein gutes Sprachvorbild, durch häufiges Hören guter Texte, durch häufiges Sprechen guter Sätze gewöhnen sich die Kinder nach und nach an den korrekten Sprachgebrauch?, weiß die Pädagogin. Sprachaufmerksamkeit bei den Schülern hervorzurufen sei deswegen das Wichtigste überhaupt.

Deutsch für Mathe

Sensibilisierung für die Tücken der Sprache brauchen allerdings nicht nur die Schüler. Denn wichtig ist ebenso das Bewusstsein für die sprachliche Problematik bei den Fachlehrern, die kein Deutsch unterrichten. Ziel des Programms ist es ja, die gesamte Bildung der Kinder durch die Verbesserung ihrer Sprachkompetenz in der deutschen Bildungssprache zu fördern. Denn auch in vielen naturwissenschaftlichen Fächern sind die Teilnahme am Unterricht und der schulische Erfolge wesentlich vom Beherrschen der korrekten fachlichen Termini und Formulierungen abhängig.

Gerade die für die deutsche Bildungssprache typischen fachlichen Wortbildungen, wie etwa Komposita, gehören zu den Stolpersteinen der Migrantenkinder auf dem Weg zum Schulerfolg, so Hans-Joachim Roth. Um diesem Missstand abzuhelfen, bedarf es aber nicht nur der Hilfe der Deutschlehrer. ?Deutsch als Zweitsprache betrifft nicht nur die Deutschlehrer sondern alle Lehrer?, erklärt Roth. Er setzt auf die Sensibilisierung der Fachlehrer für die sprachliche und sprachdidaktische Problematik bei den Kindern mit Migrationshintergrund.

Das Prinzip, dass sprachliche Bildung in allen Fächern stattfinde, werde inzwischen auch von den Lehrern der anderen Fächer akzeptiert. Gerade auch in den Naturwissenschaften und in der Mathematik gebe es Lehrkräfte, die durchaus für die sprachlichen Anforderungen des Unterrichts mit Migranten aufgeschlossen seien, weil sie beobachteten, dass sie auch mit ihrem Unterricht besser voran kämen, wenn die Kinder ihre Fachsprache gut beherrschten: ?Das ist der Weg, wir müssen alle Fächer als sprachbildende Fächer betrachten.? Fortbildung für Lehrer Die Lehrer seien sich der Herausforderungen bewusst und bereit, sich sprachdidaktisch weiterzubilden, davon ist Monika Lüth fest überzeugt. Leider seien ihre Kollegen schlichtweg überlastet und oft zeitlich gar nicht mehr in der Lage an Fortbildungen teilzunehmen. Wichtig für die Lehrerin ist, dass die Ausbildung der nächsten Generation von Pädagogen an den Universitäten praxisbezogen auf die Problematik von zweisprachigen Schülern eingeht.

Die Initiative von FÖRMIG, die wissenschaftliche Evaluation, wird von ihren Kollegen deswegen durchweg positiv aufgenommen: ?Die Lehrer sehen, dass jetzt etwas passiert, was schon lange nötig war: die Wahrnehmung des Kindes mit seinen zwei Sprachen. Und dass man diese zweite Sprache auch als Ressource ansieht und nicht als Problem.? Trotz der allgemein positiven Resonanz unter den Lehrern und dem Willen, der Situation mit adäquaten didaktischen Methoden zu begegnen, sieht der Wissenschaftler Roth allerdings noch Handlungsbedarf. Denn die Lehrer der naturwissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Fächer verfügen in der Regel über kein linguistisches Studium, ihnen fehlt oft das Vokabular, um mit der Fragestellung umzugehen. ?Die Fachlehrer sind von daher die eigentliche Zielgruppe, denn die Sprachlehrer wissen im Prinzip Bescheid?, erklärt Roth. Hier wären Fortbildungen nötig, die den Pädagogen das sprachliche Wissen vermitteln.

Der Deutschunterricht in der Grüneberg Grundschule in Köln- Kalk ist aus. Zum Ende der Stunde wird die Pausenmusik gespielt und die Kinder dürfen ihre Plätze verlassen. An der Tafel steht korrekt geschrieben: ?Mit dem Papa kann ich den Gruselfilm sehen.?