zum Inhalt springen

Können Menschen Wurzeln haben?

Warum türkeistämmige Akademikerinnen Deutschland verlassen, um in der Türkei zu leben

 

Sie sind die Töchter von türkischen Einwanderern. Sie sind hier aufgewachsen und kehren nach Abitur und Studium Deutschland den Rücken. Doch sie haben sich nicht irgendein beliebiges Ziel ausgesucht, sondern die einstige Heimat ihrer Eltern. Die Kölner Doktorandin Nora Warrach erforscht dieses Migrationsphänomen und befragte Auswandererinnen in der Türkei zu ihrer Lebensgeschichte.

Doku-Soaps wie Goodbye Deutschland erzählen die Geschichten derer, die es gewagt haben, Deutschland für ein Abenteuer in der Ferne den Rücken zu kehren: als Ferienressortbesitzer in Amerika, Ärztin in Skandinavien oder Barkeeper auf Mallorca. Drei Lebensmodelle, die beim Publikum immer gut ankommen. Ein Blick in die Statistiken verrät jedoch, dass ein Land noch weiter oben in der Hierarchie der Top-Auswanderungsziele steht und zwar die Türkei. Einst kamen von dort die meisten Zuwanderer, doch seit 2006 ziehen jedes Jahr mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt.

Nora Warrach vom Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln stellt diese Entwicklung in den Fokus ihrer Arbeit. Die Migrationssoziologin erforscht im Rahmen ihrer Dissertation, warum türkischstämmige Akademikerinnen von Deutschland in die Türkei auswandern. „Mich interessieren die Gründe, weshalb diese Frauen ausgerechnet das Land ihrer Eltern als Auswanderungsziel wählen“, sagt Warrach.

Ihre Forschung soll einen Kontrast bilden zum Mainstream bisheriger Studien über Auswanderung in die Türkei, die sich hauptsächlich auf Männer ohne akademische Ausbildung beziehen. Die von der Kölner Doktorandin untersuchte Gruppe bildet einen Gegenpol zu dem oft verwendeten Klischee kopftuchtragender, türkischer Frauen, die in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft noch immer als Symbol für Desintegration stehen. „Es sind Frauen, die eine vorbildliche Sozialisation im Bildungssystem durchlaufen haben und somit auch optimale Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt hätten“, führt Warrach weiter aus. „Sie haben hier alles erreicht und fühlen sich – so scheint es – doch nicht dazugehörig.“

Fragen, auf die Statistiken keine Antworten geben

Um die Motive zu erforschen, führte Warrach Interviews mit acht Auswandererinnen, die sie unter anderem über die Goethe-Institute in der Türkei gefunden hat. Dort gibt es regelmäßig Treffen für sogenannte Rückkehrer. Doch kann man in ein Land zurückkehren, in dem man selbst nie gelebt hat? Um das herauszufinden, reiste Warrach selbst in die Türkei. Für ihren Forschungsaufenthalt hat sie ein Reisekostenstipendium vom Global South Studies Center bekommen. Als die Kölner Doktorandin im August in Istanbul landet, läuft dort gerade die heiße Phase des Wahlkampfs um das Präsidentenamt. Nach den ersten Interviews geht es von dort aus weiter nach Izmir, wo sie sich mit Burcu Pekmezci trifft. Pekmezci ist als Tochter türkischer Einwanderer in Ingolstadt geboren. Im Gegensatz zu den meisten anderen befragten Frauen ist die heute 36-Jährige schon direkt nach ihrem Abitur für ein Studium in die Türkei gegangen.

„Meine Eltern wollten schon immer zurück in die Türkei. Es hieß dann bei uns ständig, dass wir in zwei bis drei Jahren wahrscheinlich umziehen, aber diese zwei bis drei Jahre kamen nie. Jedes Mal kam etwas dazwischen. Ich wollte im Ausland studieren. Dafür hätte ich auch in ein anderes Land gehen können. Aber ich war neugierig, wie das Land ist, in dem meine Eltern aufgewachsen sind und ich wollte diese Kulturhälfte, mit der ich selbst aufgewachsen bin, kennenlernen. Eines Morgens bin ich schließlich aufgestanden und habe mir gesagt, dass ich es mit dem Studium in der Türkei ausprobieren werde.”

Die Doktorandin verwendet einen biografisch- narrativen Forschungsansatz für ihre Arbeit vor Ort. Die Lebensgeschichten der interviewten Frauen bilden den Datensatz, den sie in den kommenden Monaten auswerten wird. Über die individuellen Biografien versucht sie herauszufinden, warum die Frauen ausgewandert sind, inwieweit hierbei Fremderfahrungen entscheidend waren und schließlich auch, um welche Form von Migration es sich dabei eigentlich handelt. Solche Fragen lassen sich nicht allein mit Hilfe von Statistiken klären. Erst durch qualitative Interviews erhalten Migrationsforscher ein präzises Bild spezifischer Auswanderergruppen.

Während der Gespräche war es der Doktorandin wichtig, den Erzählfluss nicht zu stören. Nachdem sie den Frauen in einem sogenannten Erzählstimulus das Anliegen ihrer Forschungsarbeit vermittelt hatte, sollten sie ihren persönlichen Bildungsund Lebensweg bis zu ihrer momentanen Situation schildern. Dabei überließ sie ihnen selbst die Entscheidung, an welcher Stelle sie mit ihrer Geschichte beginnen wollten. „Es gab kein Richtig oder Falsch und auch so gut wie keinen Zeitdruck“, sagt Warrach. „Die meisten fingen ihre Erzählung mit dem Umzug von Deutschland in die Türkei an.“

Türkin in Deutschland – Deutschländerin in der Türkei

Die Gespräche brachten zum Vorschein, dass vor allem eine persönliche Verbundenheit mit dem Land die Frauen zur Auswanderung motivierte: ein Partner in der Türkei, Sehnsucht nach der Region, in der sie viele Ferien verbracht hatten, oder einfach Neugier. Zwei Frauen gaben sogar an, dass ihre komplette Zeit in Deutschland nur eine Vorbereitung auf das Leben in der Türkei gewesen sei. Keine der Befragten ist jedoch gezielt für einen bestimmten Job in die Türkei gezogen. Der in Literatur und Medien oft erwähnte Brain Drain lässt sich damit zumindest in diesem Fall nicht bestätigen, wie Warrach betont: „Die Jobsituation in der Türkei ist scheinbar nicht so gut wie ihr Ruf.

Alle acht befragten Frauen haben gesagt, dass sie in Deutschland einen Arbeitsplatz zu besseren Bedingungen hätten finden können“. Obwohl das Arbeitsleben für die Frauen nicht ausschlaggebender Grund zur Auswanderung war, dürften die beruflichen Perspektiven zu diesem großen Schritt zumindest beigetragen haben. Denn laut Angaben der befragten Frauen gelten Menschen aus Deutschland in der Türkei als sehr gut ausgebildet und profitieren zudem von ihren Deutschkenntnissen. Beruflich haben die befragten Frauen auch alle mit Deutschland oder der deutschen Sprache zu tun.

Zunächst hatte Warrach für ihre Doktorarbeit den Untertitel „Fremderfahrungen als Türkin in Deutschland und als Almanci in der Türkei“ vorgesehen. Almanci bedeutet übersetzt Deutschländer und gilt in der Türkei meist eher als abfällige Bezeichnung. Doch ihre Forschungsreise zeigte, dass die Frauen so gut wie keine Fremderfahrungen erlebt hatten. Das Wort „fremd“ taucht in keinem Interview auf. Trotzdem verlief die Auswanderung nicht immer ohne Schwierigkeiten, wie das Gespräch mit Burcu Pekmezci zeigt.

„Als ich dann in die Türkei zurückgekommen bin, hatte ich ein Sprachproblem. Manchmal benutzen sie dort irgendwelche Fremdwörter, die aus dem Alttürkischen oder Arabischen kommen und man weiß nicht, was sie wollen. Wenn man dann zwei, dreimal das Gleiche nachfragt, dann werden die ungeduldig. […] Es ist auch etwas Anderes, weil man unbewusst sehr viel mit Deutschland vergleicht. Beim Essen, beim Ausgehen, den Verkehr, Kleidung, Musik. In wirklich jeder Hinsicht vergleicht man ganz unbewusst. Manchmal kann das natürlich falsch aufgefasst werden. Es wirkt dann für die Anderen so, als wolle ich angeben. Das habe ich deshalb mit der Zeit gelassen und vergleiche seitdem lieber nur in Gedanken.”

Wurzelmigration – ein in der Forschung bisher kaum verwendeter Terminus

Migration ist nicht gleich Migration. Ein zentrales Anliegen der Migrationsforschung ist es, verschiedene Formen von Ein- und Auswanderung zu definieren. In der Presse ist häufig von Remigration die Rede, wenn es um junge türkischstämmige Menschen geht, die in das Land ihrer Eltern auswandern. Remigration trifft das von Warrach untersuchte Phänomen jedoch nicht, denn selbst wenn die Migrantinnen einen türkischen Pass besitzen, bleibt die Türkei ein Land, in dem sie zuvor nie gelebt haben. In diesem Kontext wird der Begriff in der Regel als Notlösung verwendet, da eine geeignetere Bezeichnung bislang fehlt.

Immer häufiger taucht zudem der Begriff Transmigration auf. Dies ist ein sehr weiter Begriff, der einen deutlich größeren Definitionsspielraum zulässt. Kurz gesagt steht er für einen häufigen Wohnortwechsel von Migrantinnen und Migranten, die ihren Lebensmittelpunkt gleichzeitig über nationale Grenzen hinweg aufrechterhalten.

Viele türkische Einwanderer haben sich in den letzten Jahrzehnten eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut, die ihnen so eine Lebensform ermöglicht. Transmigration ist somit keine ganz abwegige Bezeichnung und führt gleichzeitig weg vom einstigen Schubladendenken. Die befragten Frauen haben ihren Lebensmittelpunkt jedoch ganz klar in der Türkei. Warrach findet beide Begriffe nicht passend und bezeichnet den von ihr untersuchten Migrationsprozess stattdessen lieber als Wurzelmigration – ein in der Forschung bisher kaum verwendeter Terminus.

Die Schweizer Sozialanthropologin Susanne Wessendorf prägte den Begriff „roots migration“ in einer Forschungsarbeit über Schweiz-Italiener, die nach Italien in den Heimatort ihrer Eltern auswanderten. Parallelen zu der von Warrach untersuchten Gruppe sind nicht zu übersehen. „Ich hab den Begriff Wurzelmigration herausgearbeitet, indem ich die Begriffe Transmigration und Remigration gegenübergestellt habe“, erklärt Warrach. „Mit diesem neuen Begriff versuche ich, die Lücke zu füllen, die bei den genannten Termini entsteht.“ „Es sind die Wurzeln meiner Eltern“

Burcu Pekmezci lebt nun schon seit über 17 Jahren in der Türkei. Sie kann sich vorstellen, eines Tages zurück nach Deutschland oder in ein anderes Land zu ziehen. Konkrete Pläne hat sie aber noch nicht. Als während des Interviews Begriffe wie Rückkehrer und Wurzelmigration ins Gespräch kommen, reflektiert sie über ihre eigene Geschichte und die Geschichte ihrer Eltern:

„Der Begriff Rückkehrer trifft auf mich nicht zu, da ich erstmalig ausgewandert bin. Deutschland war bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr meine Heimat. Rückkehrer ist ein Begriff, der auf meine Eltern zutrifft. […]Es sind die Wurzeln meiner Eltern. Ich habe mich so heimisch gefühlt in Deutschland, dass ich sagen kann, zwei Wurzeln zu haben: die eine in Deutschland und die andere in der Türkei – meine beiden Seiten eben. Der Begriff ‚zweite Heimat’ drückt es besser aus.”

Welchen Begriff Nora Warrach in ihrer Arbeit verwenden wird, lässt sie noch offen. Momentan ist sie noch mit der Auswertung der Interviews beschäftigt. Klar ist für sie aber schon jetzt, dass es ein sehr spezielles Phänomen der Migrationssoziologie ist. Denn im Endeffekt handelt es sich hierbei auch um einen Kontrast zur Generation der Gastarbeiter: „Die Eltern der befragten Frauen, sind mit vergleichsweise geringer Bildung nach Deutschland eingereist, um möglichst viel Geld zu verdienen“, sagt Warrach. „Die Töchter drehen den Spieß nun um und gehen mit einer hohen Bildung in ein Land, in dem sie nicht unbedingt die besseren Berufsaussichten haben.“