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Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug

Wie sieht der Alltag in deutschen Jugendgefängnissen wirklich aus?



Gewalt ist bitterer Alltag in deutschen Jugendgefängnissen. In einer aufwendigen Studie untersuchten Kriminologen die Dimensionen des Problems. Viele Alltagsvorstellungen  estätigten sich, doch es gab auch einige Überraschungen. Die Ergebnisse sind ein deutliches Signal an die Verantwortlichen aus Justiz und Politik.

Im November 2006 erlangte die Justizvollzugsanstalt Siegburg traurige Berühmtheit: Drei junge Männer zwangen ihren Mitgefangenen Herman H. zum Selbstmord, nachdem sie ihn über mehrere Stunden hinweg gefoltert und vergewaltigt hatten. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen und zeigte neben dem abscheulichen Verhalten der Täter auch Mängel im Strafvollzug auf. Als Sofortmaßnahme untersagte das Justizministerium die Belegung von Hafträumen mit drei oder mehr Gefangenen.

Auch wenn solche extremen Fälle wie der Foltermord in Siegburg eine Ausnahme bilden, gehört Gewalt zum Alltag in allen Jugendgefängnissen. Doch in welchem Umfang kommt es zu Übergriffen? Oft unterbleibt eine Anzeige, weshalb die Dunkelziffer sehr hoch ist. Bisherige Studien stützten sich vor allem auf die Auswertungen von Gefangenenakten. Damit gab sich Professor Frank Neubacher vom Institut für Kriminologie nicht zufrieden. Gefördert von der DFG führte er zusammen mit seinem Team ein umfangreiches Forschungsprojekt in mehreren deutschen Jugendgefängnissen durch. Um ein möglichst vollständiges Bild der Problematik von Gewalt und Suizid zu erhalten, traten die Wissenschaftler in direkten Kontakt mit den Inhaftierten. „Wir haben dieselben Gefangenen im Laufe eines Jahres mehrmals befragt, um zu sehen, welche Dynamik es im Zusammenhang mit Gewalt im Jugendstrafvollzug gibt“, erklärt Professor Neubacher. „Eine längsschnittliche Studie ist in dieser Form bisher weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene durchgeführt worden.“

Fast jeder zweite Gefangene übt schwere Gewalt aus Es gilt als bekannt, dass unter den deutschen Strafvollzugsanstalten Jugendgefängnisse ganz besonders vom Gewaltproblem betroffen sind. Dabei kommen auf einen bekannt gewordenen Fall sogar noch vier unbekannte hinzu. Zu diesem Ergebnis gelangten Neubacher und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, als sie die Angaben der Gefangenen mit den Vermerken in Personalakten verglichen. An ihrer Studie nahmen insgesamt 882 Inhaftierte der Anstalten Heinsberg und Herford in NRW sowie Ichtershausen in Thüringen teil. Siegburg war nur deshalb kein Teil des Forschungsprojektes, weil das Gefängnis zum Zeitpunkt der Untersuchung von einem Umzug betroffen war. Die Wissenschaftler kamen innerhalb von 12 Monaten vier Mal in jede der drei Haftanstalten, um die Gefangenen zu befragen.

Die Ergebnisse sprechen für sich: Je nach Untersuchungszeitpunkt gaben bis zu 47 Prozent der Inhaftierten an, in den zurückliegenden drei Monaten Gewalt im Sinne einer Körperverletzung verübt zu haben. Wenn man einen weiter gefassten Gewaltbegriff zu Grunde legt, der etwa auch Mobbing und Drohungen einschließt, gaben sogar bis zu 83 Prozent eine Täterschaft zu. Die Anstaltsleiter der untersuchten Jugendgefängnisse dürften wenig erfreut über die Einschätzungen der Kriminologen sein. Immerhin liegt es in ihrer Verantwortung, dass eine Inhaftierung zu menschenwürdigen Bedingungen gewährleistet ist. Doch auch für die Verantwortlichen in der Politik dürften diese Zahlen brisant sein.

Umfangreicher Datensatz von großer Bedeutung

Umso wichtiger war es Neubacher, dass sich die Ergebnisse seiner Studie auf eine solide Methodik stützen. Der Längsschnitt aus vier Untersuchungszeitpunkten spielte dabei eine wichtige Rolle und lässt dem Kriminologen keinen Grund zum Zweifeln: „Hätten wir nur eine einmalige Erhebung durchgeführt, könnte man den Einfluss besonderer Vorkommnisse in der Anstalt kaum ausschließen“, meint der Kriminologe. „In dem Befragungszeitraum haben aber zahlreiche Häftlinge die Anstalt verlassen und andere sind neu hinzugekommen. Trotzdem haben wir über die vier Messzeitpunkte immer wieder ein gleiches Niveau, und das bei allen Gewaltarten.“

Die Teilnehmer mussten in einem Fragenkatalog angeben, ob sie in bestimmten Gewaltsituationen involviert waren. Einige nahmen zusätzlich an Interviews teil. Außerdem bestand für die Kriminologen die Möglichkeit, die Ergebnisse mit den Gefangenenakten abzugleichen und auf diese Weise Ungereimtheiten aufzudecken. Zuvor baten sie die Gefangenen in Informationsveranstaltungen um unbedingte Offenheit und Ehrlichkeit. Unter anderem machten sie deutlich, dass sie die Angaben lediglich im Rahmen der Studie verwenden und nicht etwa an Anstaltsleitung oder Staatsanwaltschaft weitergeben würden.

Gewalt ist absoluter Alltag

Die Gefangenen haben sich sehr offen gegenüber den Kriminologen gezeigt, was sich auf den Erfolg des Forschungsprojektes auswirkte. Bis zu 75 Prozent nahmen an der Studie teil. In der Sozialforschung sind das traumhafte Werte. Die Bereitschaft unter den Gefangenen war letztlich so groß, dass für die Interviews gar nicht alle Interessenten berücksichtigt werden konnten und das Los entscheiden musste. Sowohl in den Fragebögen als auch in den Interviews wird die Alltäglichkeit von Gewalt sehr deutlich. Sie bildet einen wichtigen Regelungsmechanismus für die meisten Gefangenen. Dabei gibt es sehr viele verschiedene Situationen, in denen Gewalt entsteht. Den einen geht etwa darum, Status zu gewinnen, andere nutzen Gewalt, um Schulden einzutreiben oder sich Mitgefangene aus anderen Gründen gefügig zu machen.

Es kann auch sein, dass jemand auf Gewalt zurückgreift, um sich auf dem gefängnisinternen Schwarzmarkt für Drogen zu behaupten. Vor allem Neu-Inhaftierte sind betroffen, etwa wenn andere Gefangene testen, wie weit sie mit ihnen gehen können. Sexuelle Gewalt dagegen kommt laut den Befragungen deutlich seltener vor als das in der Wissenschaft vermutet wurde. Hier liegen die Täterangaben bei ein bis zwei Prozent. „Diese Werte haben uns zunächst verwundert, da in der Forschungsliteratur meist spekuliert wird, dass Vieles aus Scham unbekannt bleibt“, sagt Neubacher. „Ich bin trotzdem der Meinung, dass wir unseren Daten trauen können, zumal eine kürzlich in den USA durchgeführte und methodisch besonders sensible Studie zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt“.

Viele Täter, kaum Opfer?

Die Angaben zu Opfersituationen sind in der Regel niedriger als die Quoten zur Täterschaft. Es gibt verschiedene Erklärungsmöglichkeiten dafür. Es könnte daran liegen, dass sich Gefangene ungern als Opfer bezeichnen. Nicht von ungefähr wird das Wort unter Jugendlichen als Beleidigung gehandelt. Da würde es nicht wundern, wenn in der Wahrnehmung des einen oder anderen Teilnehmers die Erinnerung an eine solche Situation verdrängt wird. Letztlich greift diese Erklärung aber nicht durch, wenn man berücksichtigt, dass sich immerhin fast 80 Prozent der befragten Gefangenen als Opfer irgendeiner Form von Gewalt zu erkennen gegeben haben. Neubacher geht deshalb davon aus, dass häufig mehrere Täter ein Opfer drangsalieren, wie es auch bei dem Foltermord von Siegburg der Fall war. Gewalt ist vielfach ein Gruppenphänomen.

Beim Auswerten der Fragebögen fiel den Kriminologen zudem auf, dass man in vielen Fällen nicht eindeutig zwischen Tätern und Opfern unterscheiden kann. 70 Prozent der Gefangenen gaben an, in den letzten Monaten sowohl Täter als auch Opfer gewesen zu sein. Neubacher: „Darin zeigt sich die Dynamik des Geschehens. Ich finde, das muss Konsequenzen für den Umgang der Strafvollzugsbediensteten mit dem Thema Gewalt haben. Man kann die Gefangenen nicht einfach in die bösen Täter und die guten Opfer aufteilen. Die meisten treten in beiden Rollen auf.“

Wege aus dem Inhaftierungsschock

Praktisch alle Jugendlichen sind erst einmal wie vor den Kopf geschlagen, wenn sie als Unerfahrene in den „Knast“ kommen. In den ersten Tagen und Wochen müssen sie sich irgendwo zwischen den Regeln der Anstaltsleitung und der Gefangenensubkultur positionieren. Das Faustrecht dieser Subkultur ist ein typisches Problem. Regeln nach dem Motto „Wenn man einsteckt, muss man sich selber helfen“ oder „Man verpfeift keinen Mitgefangenen“ sind für die Gefangenen oft maßgeblich, weil sie unter den Mitgefangenen nicht negativ auffallen wollen. Nur den Wenigsten gelingt es, sich komplett aus dieser Dynamik herauszuhalten.

Mit fünf bis sechs Prozent ist das die kleinste Gruppe in der Studie von Neubachers Team. Die Anderen müssen sich irgendwie in dem System behaupten, um mit der neuen Situation zurechtzukommen. Vor allem für Neuzugänge ist es eine Phase, in der sie enormem Stress ausgeliefert sind. Deswegen wollten die Kriminologen nicht nur das Gewaltpotenzial untersuchen, sondern auch Suizid in Haft. „Die ursprüngliche Idee war, dass Gewalt und Suizid zwei unterschiedliche Anpassungsstrategien sein können, um mit der Inhaftierungssituation umzugehen“, betont Neubacher. Die Studie zeigte allerdings, dass nur vier Prozent der Gefangenen in den vorangegangenen drei Monaten Suizidgedanken hatten, was eine unerwartet geringe Quote ist. Die Gründe für diese Gedanken lagen hierbei zudem eher in dem privaten Umfeld, wogegen die Umstände der Inhaftierung von deutlich untergeordneter Bedeutung waren.

Die Gefängnisse sind Teil des Problems

Während die Suizidneigung in der Regel mit längerem Verbleib in Haft abnimmt, ist es bei der Gewalt umgekehrt. Es gibt eine starke Dynamik in Richtung der Zunahme der Tätergruppe. Selbst jemand, der der Gewalt eher abgeneigt ist, gerät schnell in eine Situation, in der er ihr nicht ausweichen kann. Die Gefangenen schildern ihre Gewalterlebnisse jedenfalls in einer Weise, die keinen Zweifel daran lässt, dass sie Gewalt in dieser Umgebung als normal und in gewisser Weise sogar berechenbar ansehen. Zusätzlich zu den Inhaftierten sah die Studie noch eine Kontrollgruppe außerhalb der Gefängnisse vor. Diese setzte sich aus vergleichbaren Bewährungsprobanden zusammen, d.h. männlichen Altersgenossen, die zwar ähnliche soziale Probleme hatten, aber nicht in Haft waren.

Das überraschende Ergebnis war, dass sie in allen Bereichen (Täterschaft, Gewaltausübung, Opfereigenschaft und Suizidalität) höhere Werte aufwiesen als die inhaftierten Teilnehmer. Dabei haben doch gerade sie von den Gerichten eine positive Sozialprognose bekommen. Hier wird das Dilemma der Jugendgefängnisse deutlich, denn ein Teil des Problems ist der Strafvollzug selbst. „Unsere Daten machen deutlich, dass Gefängnisse einerseits Gewalt fördern“, betont Neubacher. „Andererseits würde möglicherweise noch mehr passieren, wenn die Gefangenen frei und unkontrolliert ihren bisherigen Lebensstil fortsetzten. So schwierig es mit dem Strafvollzug ist, hält er anscheinend doch irgendwie den Deckel drauf.“

Sebastian Grote