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Deutsche Sprache – schwere Sprache?

Das neue Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln will ergründen, wie sich der Spracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund langfristig verbessern lässt.

 

Nach dem Pisa-Schock vor zehn Jahren wurden etliche Sprachförderprogramme ins Leben gerufen. Doch nun zeigt sich, dass man ihre Wirksamkeit möglicherweise überschätzt hat. Jedes zweite bis dritte Kind mit Migrationshintergrund beherrscht bei seiner Einschulung die deutsche Sprache nur unzureichend, bei den deutschen Kindern ist es jedes zehnte. Die Folgen sind prekär, denn das Sprachvermögen wirkt sich auf die schulischen Leistungen in allen Fächern aus. Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache – ein durch die Stiftung Mercator neu initiiertes und gefördertes Institut der Universität zu Köln – hat sich zum Ziel gesetzt, die Bildungs- und Zukunftschancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen langfristig verbessern zu helfen. Mit einem 3 Säulen-Modell sollen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Professor Dr. Michael Becker-Mrotzek vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln ist Leiter des neuen Instituts.

 

 

Herr Professor Becker-Mrotzek, im Januar dieses Jahres veröffentlichte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie zu Sprachförderprogrammen für Kinder mit Migrationshintergrund. Der Inhalt war ernüchternd: Es gäbe zwar zahlreiche Initiativen und Programme, jedoch seien sie weitgehend wirkungslos. Wie schätzen Sie diese Studie ein?

Die Berlinstudie ist ja eine Metastudie, in der man die wenigen deutschen Studien, die es in diesem Bereich gibt, reanalysiert hat. Untersucht wurde dabei der Elementarbereich, also Kindergärten und Kindertagesstätten. Aber auch andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: In einer groß angelegten Studie der Baden-Württemberg-Stiftung wurden drei unterschiedliche Sprachförderansätze in Kindertagesstätten auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Dazu führte man eine Eingangserhebung durch, die ErzieherInnen wurden geschult, dann wurde über mehrere Monate die Sprachförderung durchgeführt und anschließend gab es einen Nachtest – also das übliche Verfahren. Durchgeführt wurde die Studie von Hermann Schöler, Professor für Entwicklungspsychologie an der PH Heidelberg, ein anerkannter Kollege im Bereich „Sprachstandserhebung“ und „Sprachstandsmessung“. Zusätzlich gab es den Auftrag, die Evaluationsergebnisse noch einmal zu prüfen; zufälligerweise wurde diese Studie von jemandem durchgeführt, der später an meinen Lehrstuhl wechselte. Auch in dieser Studie zeigte sich, dass Kinder, die an einer Sprachförderungsmaßnahme teilgenommen hatten, keinerlei bessere sprachliche Fähigkeiten hatten als Kinder, die keine solche Förderung hatten. Das Ergebnis ist ernüchternd, weil viel Geld in solche Fördermaßnahmen gesteckt wird.

 

Warum sind solche Maßnahmen so wirkungslos?

Erzieherinnen und Erziehern wird meist in sehr kurzer Zeit ein komplexes theoretisches Konstrukt vermittelt, anschließend überprüft man aber nicht mehr, wie sie die Theorie umsetzen. Solche Überprüfungen sind im Allgemeinen recht teuer. Das heißt: man unterstellt einfach, dass die ErzieherInnen nach der Schulung so agieren, wie sie es dort gelernt haben. Wir wissen aber nicht, ob sie das auch wirklich tun. Um das zu überprüfen, müssten zum Beispiel Videoaufzeichnungen gemacht werden, für die man Genehmigungen benötigt, und die auszuwerten sehr aufwändig und teuer ist. Das könnte ein möglicher Grund dafür sein, dass Sprachförderung keine Wirkung erzielt. Denkbar ist dabei auch, dass ErzieherInnen sich nach einer Schulung nicht anders verhalten als vorher. Studien zeigen aber auch, dass in gesonderten Förderstunden meist die ErzieherInnen reden und die Kinder verstummen. Sie agieren dann ähnlich wie Lehrer im Unterricht: Anstatt die Kinder zum Reden zu bringen, reden sie selbst.

 

Wie sehen denn Förderkonzepte für Kinder genau aus?

Da gibt es verschiedene Ansätze. In der Elementarpädagogik wird häufig ein alltagsintegrierter Ansatz verfolgt. Das bedeutet: man vermittelt ErzieherInnen, wie sich alltägliche Anlässe mit Sprache begleiten lassen. Dabei werden alle Gelegenheiten genutzt, mit den Kindern in Situationen zu sprechen, die sie auch von Zuhause kennen. Z.B. beim Zubereiten gemeinsamer Mahlzeiten sagt man ihnen, wie sie etwas kleinschneiden oder welche Schüssel sie dafür benutzen sollen. Daneben gibt es auch die gezielte Förderung des Wortschatzes, die bei Kindern, die noch nicht lesen können, in spielerischer Form durchgeführt wird. Gut eignen sich dafür etwa Memory-Spielkarten oder Bilderbücher, die man sich gemeinsam anschaut. Auch Spiele wie „Ich sehe etwas, was Du nicht siehst“ bergen vielfältige Möglichkeiten, die Kinder zum Sprechen anzuhalten. Auf diese Weise lassen sich komplexe Szenarien aufbauen, mit deren Hilfe man einfache Satzstrukturen üben kann. Solche Settings wurden z.B. an der Uni Heidelberg verwendet. Diese mehr oder weniger expliziten Instruktionssituationen, in denen intensiv mit Kindern gearbeitet wird, können erfolgreich sein. Besonders effektiv sind Lernprozesse, in die die Eltern mit einbezogen werden. Die Eltern haben ja ausgesprochen viel Kontakt zu den Kindern. Wenn es gelingt sie einzubeziehen – und in der Regel haben die Kinder ja Schwierigkeiten, weil ihre Eltern nicht den Input liefern, den ein Kind zum Spracherwerb braucht – dann sind die Effekte sehr groß. Nur eben gerade das ist das größte Problem. In einer Berliner Studie wurden die Erfolge eines Elterntrainings gemessen, also welche Wirkung man erzielt, wenn Eltern darin geschult werden, wie sie mit ihren Kindern z.B. gemeinsam Kinderbücher lesen können. Das hat gut gewirkt – nur die Eltern, die an der Schulung teilgenommen haben, waren eben jene, die sich ohnehin viel mit ihren Kindern beschäftigen.

 

Welchen Einfluss hat denn das Elternhaus? Von welchen Faktoren hängt Sprachentwicklung ab?

Sprachentwicklung wird von vielen Faktoren beeinflusst, die hoch miteinander korrelieren. Das gerade macht die Ursachenforschung auch so schwierig. Wir bezeichnen Bildung, Sprachfähigkeit oder auch die Anzahl an Büchern, die es in einem Haushalt gibt, als kulturelles Kapital. Vor allem Bücher sind ein guter Indikator für die Schulleistung der Kinder. Wenn Eltern nicht lesen und schreiben können, machen sie das auch nicht mit ihren Kindern. Sie lesen keine Kinderbücher vor, zum Teil aus Angst davor, vor den Kindern zu versagen. Kinder aus solchen Familien sind überproportional häufig in Förderschulen.

 

Wie viele Analphabeten gibt es denn in Deutschland?

Laut der im vergangenen Jahr veröffentlichten Leo-Studie, die den Alphabetisierungsgrad bei Erwachsenen untersucht, haben wir – je nach Zählweise – bis zu 7,5 Millionen funktionale Analphabeten und insgesamt etwa 15 Millionen Menschen zwischen 18 und 65 Jahren, die so schlecht lesen und schreiben können, dass sie jede Situation meiden, in der sie damit konfrontiert werden. Das ist ein Teufelskreis, den man zu durchbrechen versucht.

 

Und wie kann man das schaffen?

Wenn man unterstellt, dass Bildungsschwäche nicht genetisch bedingt ist, sondern erworben wird – auch genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen, das war lange Zeit eine Tabu-Diskussion – dann muss man an bestimmten Stellen ansetzen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Genau das wurde in der Berliner Studie versucht: Eltern wurden darin geschult, wie sie ihre Kinder im Schriftspracherwerb unterstützen können. Kinder, die den Schriftspracherwerb nicht erfolgreich bewältigen, also am Ende des vierten Schuljahrs nicht flüssig lesen und schreiben können, sich nicht auf den Inhalt, sondern auf das Dekodieren einzelner Buchstaben konzentrieren müssen, hängen auch in allen anderen Fächern hinterher. Damit haben wir den nächsten funktionalen Analphabeten. Solche Menschen entwickeln oft gute Strategien, um ihr Handicap zu verbergen. Sie lavieren sich mehr oder weniger durch die Schulzeit, ohne aufzufallen.

 

Welchen Einfluss hat dabei der Faktor Migration? Haben Kinder mit Migrationshintergrund ein schlechteres Sprachvermögen?

Der Faktor Migration hängt häufig mit sozialem Status zusammen. Kinder aus einem akademischen Elternhaus haben solche Probleme in der Regel nicht, auch nicht wenn die Eltern einen Migrationshintergrund haben. Wenn Eltern mit Migrationshintergrund aber einen schlechten sozialen Status haben, sind sie oft auch in ihrer Muttersprache illiteral. D.h. sie lesen auch in ihrer Muttersprache nicht mit ihren Kindern. Das macht es im Deutschen für sie umso schwieriger. Kommt dann noch der Faktor der Segregation hinzu, also die Isolierung und der Aufbau von Parallelwelten in einzelnen Stadtteilen, was wir in vielen Großstädten beobachten, wird der Kontakt mit der deutschsprachigen Bevölkerung immer weiter reduziert und die letzten Möglichkeiten, Deutsch zu lernen, verschwinden.

 

Gibt es Schulen, an denen die Sprachvermittlung besonders gut gelingt? Beispielsweise bilinguale Schulen, an denen neben Deutsch auch die Muttersprache unterrichtet wird?

Leider werden Schulen da nicht evaluiert bzw. die Evaluationsstudien werden nicht veröffentlicht. Ich kenne nur wenige öffentlich zugängliche Studien, darunter aber keine, die sich mit bilingualen Schulen befassen. Bilinguale Schulen sind in der Regel deutsch-englisch oder deutsch-französisch. In Köln haben wir allerdings auch eine deutsch-türkische Grundschule. Ob solche Schulen zu einem besseren Spracherwerb beitragen, wissen wir jedoch nicht. Mit dem Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration in Köln haben wir jedoch das Projekt „Koordinierte Alphabetisierung“ durchgeführt, in dem Kinder vom ersten bis zum vierten Schuljahr deutsch-türkisch alphabetisiert wurden. Dazu wurden Muttersprachenlehrer in den normalen Deutschunterricht integriert. Es zeigte sich, dass die Kinder eine ausgeglichenere Sprachlichkeit hatten und auch im Deutschen besser waren als Kinder, die an dieser Förderung nicht teilgenommen hatten. Wir können aber noch nicht sagen, ob die Gründe dafür in der Alphabetisierung selbst liegen oder an der Tatsache, dass Muttersprachenlehrer, die sonst eher in den Randzeiten unterrichten, in diesem Fall eine so zentrale Funktion haben, weil sie mit in den Unterricht kommen, Teil des Lehrerkollegiums sind und in die Unterrichtsplanung integriert sind.

 

Was werden die Aufgaben des neuen Mercator-Instituts sein?

Wir haben drei Aufgabenbereiche: Der erste Bereich umfasst das, was man mit dem Begriff „Anwaltschaft“ umschreiben könnte. Ziel ist, in den nächsten fünf Jahren mindestens zwei weitere Bundesländer zu unterstützen, die die Sprachförderung stärker in die Lehrerausbildung integrieren wollen. Als Pilot in NRW wollen wir dabei auch die hiesigen Hochschulen unterstützen, die das jetzt schon nach dem Lehrerausbildungsgesetz umsetzen. Die zweite Säule heißt „Forschung stärken“. Hier wird es darum gehen, fachübergreifende Forschungsverbünde zu initiieren und dabei besonders die Interdisziplinarität zu fördern und zu stärken. Mit der dritten Säule „Qualifikation stärken“ wollen wir Personal für Lehre und Forschung an den Universitäten aber auch als Coaches und Berater in den Schulen qualifizieren. Eine erste Überlegung dazu ist, einen Masterstudiengang für „Deutsch als Zweitsprache“ anzubieten, der parallel zum Staatsexamen für den Schuldienst führt. Vielen dieser im Kern qualifizierten Menschen fehlt einfach das Staatsexamen, das nach wie vor Voraussetzung für den Schuldienst ist. Diese Maßnahmen werden wir auch mit Forschungsprojekten verknüpfen, in die wir auch Doktoranden integrieren werden.

 

Köln ist die größte Lehrerbildungsstätte in NRW. Gibt es hier schon erste Ansätze, auf die Sie aufbauen können?

Ja, wir arbeiten in Köln schon längere Zeit an diesen Themen. Jetzt wird es insbesondere darum gehen, unsere Forschungsarbeiten mit dem Pro DAZ-Projekt der Universität Duisburg-Essen, das auch durch die Stiftung Mercator gefördert wird, zu verknüpfen. Das DAZ-Projekt befasst sich mit Sprachsensibilisierung im Unterricht, also z.B. damit, wie Textaufgaben im Mathematikunterricht gestellt werden müssen, damit die Schüler nicht schon an der Aufgabenformulierung scheitern. Hier liegen Erfahrungen vor, auf die wir aufbauen können. Wir können auch auf dem Förderunterricht aufbauen, in dem Studierende bereits während des Studiums Schüler in Kleingruppen fördern und damit unmittelbar im Studium Erlerntes anwenden können. Auf solche Maßnahmen können wir zurückgreifen und natürlich auf das, was wir theoretisch über Deutsch als Zweitsprachenerwerb wissen.